HT 2021: Deutungskämpfe um historische Gewalt: Heterogenität eines Begriffs und einer Praxis

HT 2021: Deutungskämpfe um historische Gewalt: Heterogenität eines Begriffs und einer Praxis

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Julia Stieglmeier, Universität Zürich

Von der Definitionsschwierigkeit des Begriffs ‘Gewalt’ ausgehend hat sich die Sektion den Deutungskämpfen in Bezug auf Gewaltphänomene im 19. und 20. Jahrhundert zugewandt. Im Zentrum der präsentierten Fallbeispiele standen die Perspektiven der zeitgenössischen Akteur:innen vier unterschiedlicher historischer Momente – des deutschen Kaiserreichs, des kolonialen Kontexts in Deutschsüdwestafrika sowie der Bundesrepublik Deutschland.

In einer kurzen Begrüßung und Einleitung formulierte CATHERINE DAVIES (Zürich) die dem Panel zu Grunde liegenden Fragen: Wie wurde Gewalt konzipiert, eingegrenzt und ausgedrückt? Welcher Medien und diskursiver Strategien bedienten sich die Akteur:innen? Wie formten unterschiedliche staatliche und politische Strukturen den Gewaltbegriff? Lassen sich Kontinuitäten über verschiedene Epochen hinweg nachzeichnen? In Anlehnung an Heinz-Gerhard Haupt 1 stellte das Panel die These auf, dass der Deutung von Gewalt binäre Begriffsstrukturen – öffentlich/privat, legitim/illegitim, politisch/kriminell – zu Grunde liegen würden, die bislang noch nicht in zeitlich übergreifender Perspektive systematisch untersucht worden wären. Aufgrund ihrer thematischen, zeitlichen und geografischen Vielfalt gelang es dem Panel nicht nur ein vielschichtiges Bild dieser Deutungskämpfe zu zeichnen, sondern auch das Potenzial sowie die Relevanz der historischen Gewaltforschung aufzuzeigen.

NICOLA CAMILLERI (Padua) widmete sich im ersten Vortrag der chronologisch aufgebauten Sektion der Funktion von Schützenvereinen im deutschen Kaiserreich wie auch in dessen Kolonien. Diese seien – so Camilleri – bislang nur unzureichend Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung gewesen. Bislang dominierten Deutungen, welche die Geselligkeitsfunktion der Vereine wie auch deren Patriotismus fördernde Rolle betonten. Demgegenüber beleuchtete Nicola Camilleri einzelne Fallbeispiele, um die Geschlechterrollen stabilisierende und militärische Funktion der Schützenvereine herauszuarbeiten.

So fragte er zunächst aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive danach, wie innerhalb der Schützenvereine Männlichkeitsideale konstruiert, reproduziert sowie transportiert wurden. Dies wurde im Vortrag anhand eines passenden Fallbeispiels illustriert, welches die Hörer:innen auf ein Schützenfest in Düsseldorf im Jahre 1886 versetzte. Die – wie Camilleri betonte – beliebten Schützenfeste dienten als Schaufenster idealisierter Geschlechterrollen. Daran anschließend regte SVEN REICHARDT (Konstanz) in seinem Kommentar dazu an, die Feste nicht nur als Schauplatz, sondern vielmehr als Ort der Inszenierung dieser Rollen, im Sinne eines Doing Gender, zu interpretieren. Im zweiten Teil seines Vortrags warf Camilleri einzelne Schlaglichter auf Schützenvereine in deutschen Kolonien. Um die militärische Rolle der Schützenvereine zu unterstreichen, stellte er sie in Verbindung zu paramilitärischen Gruppierungen Anfang des 20. Jahrhunderts.

MARIE MUSCHALEK (Freiburg im Breisgau) untersuchte in ihrem Vortrag, der auf Aspekten ihrer Dissertation basierte, das Verhältnis von Gewalt und Macht im kolonialen Kontext von Deutschsüdwestafrika am Beispiel der 1905 gegründeten sogenannten Landespolizei.2 Dabei lenkte sie den Blick auf verschiedene Gewalthandlungen, die die alltägliche Praxis der Landespolizei in der Zeit zwischen 1908 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestimmten. Im Sinne einer phänomenologischen Gewaltforschung fragte Marie Muschalek weniger nach dem Warum bestimmter Gewalthandlungen als vielmehr nach dem Wie. Während in der bestehenden Forschungsliteratur die Annahme verbreitet sei, dass die exzessiven Gewalthandlungen der deutschen Siedler und Vorarbeiter in Minen und im Eisenbahnbau auf ein Machtvakuum des kolonialen Staates zurückzuführen seien, zeigte Muschalek mit Hilfe dieses produktiven Perspektivwechsels – hin zum Wie der alltäglichen Gewalthandlungen der Landespolizei –, dass die Polizisten „keineswegs ohnmächtige Zuschauer“ waren.

An erhellenden Fallbeispielen untersuchte Muschalek die personelle Zusammensetzung sowie alltägliche Praxis der sogenannten Landespolizei und damit verbunden die Dynamiken unterschiedlicher Gewalthandlungen. Sie betonte, dass die anhand sozialer und rassischer Kategorien geprägte koloniale Gewalt allgegenwärtig war und unterschiedlichen Ausprägungen folgte. So unterschied Muschalek in ihrem Vortrag zwischen geteilter, partizipativer, autorisierter und ritualisierter Gewalt. Die angeführten Beispiele illustrierten eindrücklich, dass trotz des Fehlens eindeutiger Regeln innerhalb der Landespolizei und einer „eigensinnigen“ Handlungsweise der Polizisten in der Gewaltanwendung, ein gewisser „transformativer und konstruktiver“ Charakter den Gewalthandlungen zu Grunde lag: Sie ermöglichten in dem kolonialen Gefüge – wie Marie Muschalek betonte – Allianzen und Gemeinschaften, begünstigten kameradschaftliche Bindungen, festigten und reproduzierten Hierarchien.

Marie Muschalek kam zum überzeugenden Schluss, dass die Alltagsgewalt der Nachkriegszeit ein zentrales Element der Lebensrealität Kolonisierter wie auch Kolonisierender ausmachte, gleichzeitig Gemeinschaft und soziale Ordnung hervorbrachte und schließlich auf diese Weise das koloniale Regime festigte. So wandte sich Muschalek von der gängigen historiographischen Annahme ab, dass die – wie sie es nannte – private Gewalt ein Zeichen der Schwäche des Kolonialregimes darstelle. Darüber hinaus lud ihr Vortrag dazu ein, Vorstellungen von kolonialer Staatlichkeit von einer anderen Perspektive zu beleuchten und zu überdenken.

CLAUDIA GATZKA (Freiburg im Breisgau) untersuchte in ihrem aufschlussreichen Vortrag das Phänomen der politischen Alltagsgewalt in den ersten Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik, das in geschichtswissenschaftlichen Forschungsarbeiten bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren habe. Vielmehr seien Narrative der Demokratisierung und friedlichen Konfliktkultur der deutschen Bürger:innen vorherrschend. Demgegenüber dokumentierte Gatzka in ihrem Vortrag, dessen erklärtes Ziel es war, die Konturen einer womöglich „spezifisch postnationalsozialistischen Kultur der Gewalt“ zu beschreiben, Handlungsabläufe politisch motivierter Gewalt sowie die Reaktionen seitens der Parteipolitik sowie der medialen Berichterstattung. Dabei stellte sie die überzeugende Ausgangsthese auf, dass politische Alltagsgewalt, welche als Akt „körperlicher Gewalt im Rahmen sozialer Alltagskommunikation, die aus Interaktionssituationen zwischen sozialen Akteuren erwuchs[…], die sich mit politischen Argumenten voneinander abgrenzten“, definiert wurde, als denkbares und insbesondere in den Jahren 1949/1950 wahrscheinliches Kommunikationsmittel im Kontext politischer Auseinandersetzungen anzusehen sei.

Trotz der, wie Gatzka betonte, schwierigen Quellenlage, zeichneten die angeführten Fallbeispiele ein schlüssiges Bild hoher Gewaltbereitschaft im Kontext politischer Auseinandersetzungen, häufig – aber nicht ausschließlich – an den politisch radikalen Rändern. Bis in die 1960er-Jahre sei immer wieder über Gewalthandlungen während Wahlkämpfen zu lesen gewesen. Eine Einordnung, ob es sich dabei allerdings um Ausnahmeereignisse oder aber gewohnte politische Zusammenstöße zwischen politischen Kontrahenten handelte, könne weder an der medialen Berichterstattung, noch an den Reaktionen der politischen Kontrahenten abgelesen werden. Nichtsdestotrotz würde in den Quellen deutlich, dass eine Problematisierung der Gewalthandlungen nicht stattfand. Die Berichterstattung lasse somit darauf schließen – so Gatzka –, dass der Einsatz von Gewalt als wahrscheinliches, wenn nicht sogar erwartetes Element innerhalb politischer Auseinandersetzungen angesehen wurde. Hinzu komme, dass Gewalthandlungen je nach politischer Herkunft des Gewaltziels und der Beteiligten unter bestimmten Umständen durchaus als legitim angesehen wurden.

Im Anschluss an Sebastian Ullrich 3 formulierte Claudia Gatzka die Hypothese, dass der „Weimar-Komplex“ die Verhandlung physischer Gewalt verhinderte, weil Demokratie einerseits gewaltsame Handlungen in der deutschen Erfahrung nicht ausschloss und die moralische Empörung als politisches Mittel andererseits aus Weimarer Zeit bekannt war. Sowohl das Stillschweigen über Gewalthandlungen als auch der selektive Rückbezug auf einzelne Facetten der deutschen Gewaltgeschichte, welcher nationalsozialistische Gewalt hinter linker Gewalt verschwinden ließ, – so das abschließende Fazit Claudia Gatzkas – machte diese spezifische postnationalsozialistische Gewaltkultur seit 1949 aus.

Auch CATHERINE DAVIES (Zürich) beschäftigte sich in ihrem Vortrag im weitesten Sinne mit der Frage nach legitimer bzw. illegitimer Gewalt. Stärker als ihre Vorredner:innen nahm sie jedoch eine Verschiebung des Untersuchungsgegenstandes vor: So fragte sie nicht nach der Form oder dem Ausmaß bestimmter Gewalthandlungen, sondern vielmehr nach der diskursiven Formung der Deutungskämpfe um politische bzw. kriminelle Gewalt in der BRD während der 1970er-Jahre im Kontext von Linksterrorismus und Neuer Frauenbewegung. Davies argumentierte überzeugend, dass diese konfliktreichen Aushandlungsprozesse als „begriffspolitische Intervention“ zu verstehen seien, die „für den bundesrepublikanischen Kontext der siebziger Jahre insgesamt kennzeichnend waren.“

Im Zentrum des Vortrags standen zum einen öffentliche Debatten um innere Sicherheit, Kriminalpolitik sowie die Etikettierung linksterroristischer Gewalt im Kontext der RAF, welche Davies im Rahmen einer konservativen ‚Tendenzwende‘ verortete, in der konservative und liberale Kräfte um zentrale Begriffe der politischen Sprache rangen. Besonders deutlich zeigte sich dieses Ringen im Sprechen über die RAF.

Zum anderen beleuchtete Catherine Davies Debatten innerhalb der Neuen Frauenbewegung um das seit Mitte der 1970er-Jahre zentrale Thema Gewalt gegen Frauen. Auch hier zeichnete sich eine begriffspolitische Dimension der Deutungskämpfe um den Gewaltbegriff ab. Indem die Neue Frauenbewegung Gewalt gegen Frauen und insbesondere Vergewaltigung als zentrale Elemente eines patriarchalen Herrschaftssystems deutete, weitete sie nicht nur die Bedeutung der Begriffe Gewalt und Vergewaltigung aus, sondern schrieb ihnen politische Relevanz zu.

Davies zeigte, dass das Ringen um die Deutung von Gewalthandlungen gleichzeitig ein Ringen um politische Deutungsmacht sei. Indem sie diskursive Verschiebungen und zeitgenössische Deutungskämpfe darüber, welchen Gewalthandlungen ein politischer Charakter zuzuschreiben bzw. abzusprechen sei, in den Mittelpunkt ihrer eindrücklichen Analyse stellte, betonte sie, dass Gewaltakte an sich nie politisch oder unpolitisch seien. Erst Zuschreibungen – durch Betroffene von Gewalt, Gewalthandelnde oder Dritte –, die im Kontext konfliktreicher Aushandlungsprozesse zu sehen seien, würden eine Gewalthandlung als politisch oder eben unpolitisch markieren.

In dem abschließenden Kommentar führte SVEN REICHARDT (Konstanz) die vier Beiträge des insgesamt sehr anregenden Panels gewinnbringend zusammen. Dabei fokussierte er drei Bereiche, welche zu weiterführenden Fragestellungen anregten. Reichardt stellte erstens fest, dass sich die Vortragenden in den meisten Fällen auf Gewalttäter beschränkt hätten, wodurch Perspektiven der Opfer von Gewalthandlungen vergleichsweise wenig Beachtung erfahren hätten, sodass er sich dafür interessierte, ob diese Ausklammerung auf einem systematischen Grund beruhe. Im Anschluss an Svenja Goltermanns kürzlich geforderte epistemologische Gewaltforschung 4 stellte er zweitens die Frage nach sich gewandelten Gewaltverständnissen, nach sich gewandelten Kategorien, Begriffen oder Vorstellungen, sodass Gewalt als ein wandelbares Konzept unterschiedlicher Wissensordnungen greifbar würde. Schließlich wandte sich Sven Reichardt einem methodischen Anliegen zu und regte dazu an, sozialhistorische und diskurshistorische Interessen stärker zu verknüpfen.

Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit konnten die interessanten, im Kommentar aufgeworfen Anregungen und Fragen in der anschließenden Diskussion lediglich gestreift werden. Insgesamt handelte es sich um ein sehr inspirierendes Panel, das in seinen spannenden Beiträgen das Potenzial verdeutlichte, Gewaltakte wie auch Deutungen davon ins Zentrum historischer Forschung zu stellen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Nicola Camilleri (Padua) / Catherine Davies (Zürich)

Catherine Davies (Zürich): Eröffnung des Panels

Nicola Camilleri (Padua): Bürger, die schießen. Staatliches Gewaltmonopol und private Waffennutzung in den Schützenvereinen um das 19. Jahrhundert

Marie Muschalek (Freiburg im Breisgau): Zwischen öffentlicher und privater Gewalt: Polizeiliche Alltagspraxis und Staatlichkeit in Deutsch Südwestafrika

Claudia Gatzka (Freiburg im Breisgau): Politische Alltagsgewalt in der jungen Bundesrepublik. Zu den Hintergründen des Versammlungsordnungsgesetzes

Catherine Davies (Zürich): Was ist «kriminell», was ist «politisch»? Deutungskämpfe um Gewalt zwischen Frauenbewegung und Linksterrorismus in den 1970er/80er Jahren

Sven Reichardt (Konstanz): Kommentar

Anmerkungen:
1 Heinz-Gerhard Haupt, Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2012.
2 Marie Muschalek, Violence as Usual. Policing and the Colonial State in German Southwest Africa, Ithaca 2019.
3 Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. 1945–1959, Göttingen 2009.
4 Svenja Goltermann, Gewaltwahrnehmung. Für eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert, in: Mittelweg 36 29 (2), 2020, S. 23–46.


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